Frage:
Hallo,
seit Kurzem kaufe ich für eine kranke Nachbarin ein, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen kann. Von ihrem Sohn weiß ich, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Sie ist viel allein und sie freut sich sehr, wenn ich Zeit für einen Plausch mitbringe. Ich bin gern bei ihr. Doch irritiert es mich total, dass sie nie darüber spricht, wie schlimm ihre Erkrankung ist. Dabei wird sie immer dünner und schwächer. Doch der Tod scheint gar kein Thema für sie zu sein. Manchmal erzählt sie mir sogar von ihren Urlaubsplänen! Ich weiß dann gar nicht, was ich sagen soll. Ich höre einfach nur zu. Kann es sein, dass sie nicht weiß, wie schlecht es um sie steht?
Antwort:
Liebe Frau A.
Sie fragen sich, warum Ihre Nachbarin ihr nahendes Lebensende nicht anspricht und ob sie möglicherweise über die Schwere ihrer Erkrankung nicht informiert ist.
Zunächst möchte ich Ihnen versichern, dass in aller Regel lebensbedrohlich Erkrankte und Angehörige um die Ernsthaftigkeit einer tödlichen Erkrankung wissen. Manchmal wird der nahende Tod (vorübergehend) ausgeblendet. Dann wird einseitig auf die Hoffnung geblickt oder es werden unrealistische Zukunftspläne geschmiedet. Vielleicht haben Sie selbst schon mal erlebt, dass schöne Tagträume Urlaub für die Seele sein können. Vielleicht braucht Ihre Nachbarin ihre Urlaubspläne also als Kraftquelle für die Bewältigung des Schicksals?
Hoffnungsvolle Momente lösen sich aber meist ab mit anderen, zum Beispiel traurigen, nachdenklichen auch wütenden Momenten. Und es kommt meist vor, dass Erkrankte über ihr Schicksal sprechend wollen. Im Gespräch können sich viele von belastenden Gefühlen befreien und Gedanken und Gefühle klären. Vielleicht kann es sogar gelingen, nach und nach Frieden zu finden und das Sterben zu akzeptieren. Die Ärztin, Frau Kübler-Ross, hat diese Vielfalt an Reaktionen und Gefühlen in den Sterbephasen sehr anschaulich beschrieben.
Wenn Ihre Nachbarin belastende Themen meidet, könnte es dafür eine Vielzahl von Gründen geben. Vielleicht befürchtet sie, einmal ausgesprochen, die traurige Wahrheit selbst nicht verkraften zu können. Das Verdrängen von belastenden Lebensthemen kann ein wichtiger Schutz sein, um den Alltag weiterhin bewältigen zu können. Manch ein Kranker meidet das Thema auch, weil er unsicher ist, ob er sich schwach, hilfsbedürftig und verletzlich zeigen und zumuten darf. Natürlich kann es auch sein, dass Ihre Nachbarin mit dem Umstand, am Lebensende zu sein, im Frieden ist und einfach keinen Gesprächsbedarf darüber hat. Auch wäre es denkbar, dass es zur Persönlichkeit Ihrer Nachbarin gehört, nicht zu klagen und das Positive und Hoffnungsvolle zu betonen.
Um Sterbende nicht zu überfordern ist es meist richtig, abzuwarten welche Themen von selbst angesprochen werden. Gleichzeitig kann es für einen schwerst erkrankten Menschen sehr tröstlich sein, zu wissen, dass es jemanden gibt, der in Stunden großer seelischer Not angesprochen werden könnte. Wenn Sie also mögen, können Sie signalisieren, dass Sie dazu bereit wären.
Genaugenommen signalisieren Sie diese Bereitschaft schon, denn Sie sind hilfsbereit und sehr einfühlsam für Ihre kranke Nachbarin da. Mit Ihrem Einkauf helfen Sie dort, wo die Hilfe gebraucht wird. Darüber hinaus nehmen Sie sich Zeit für Besuche und hören auch dann zu, wenn ihre Nachbarin über eine Zukunft spricht, die es womöglich gar nicht mehr geben wird. So drücken Sie Respekt und Wertschätzung aus und bauen mitmenschliches Vertrauen auf, das auch tragen wird, wenn Ihre Nachbarin sich aussprechen möchte.